In den letzten Wochen haben uns besorgte Mitglieder wiederholt gefragt, was der Stand der Dinge in Sachen Avgas 100LL ist. Der Auslöser dafür ist, dass die Europäische Kommission am 8. April 2022 eine Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 erlassen hat, die sich unter anderem auch dem Stoff Tetraethylblei widmet, der in Avgas 100LL enthalten ist. Die Befürchtung ist bei vielen groß, dass durch diese Verordnung Avgas 100LL kurzfristig verboten wird.

Zunächst wollen wir klarstellen, dass wir in der AOPA-Germany die weitere Nutzung von Avgas 100LL kritisch sehen. Dass das Additiv Tetraethylblei (TEL) toxisch ist, steht außer Frage. Nicht umsonst wurde es vor über 40 Jahren als Additiv in Automobilkraftstoffen verboten. Unsere Aufgabe ist es jetzt, den Übergang von einem verbleiten Avgas hin zu einem unverbleiten Nachfolger so zu managen, dass es möglichst bald einen möglichst störungsfreien Übergang gibt. Ca. 30% der Flugzeuge in der Flotte benötigen noch Avgas 100LL, sie wären von einem Verbot des Kraftstoffs hart betroffen.

Ein weiterer kritischer Faktor ist, dass TEL nur noch von einem einzigen Hersteller für den Weltmarkt produziert wird. Würde er ausfallen, aus welchen Gründen auch immer, dann wäre die Versorgung mit Avgas 100LL plötzlich nicht mehr gewährleistet.

Zusammengefaßt: Aus gesundheitlichen und auch aus wirtschaftlichen Gründen muß Avgas 100LL tatsächlich verschwinden.

Erste Frage: Wird TEL als Substanz in Europa verboten?

Schauen wir uns die Vorschriftenlage einmal genauer an. In der zitierten Verordnung steht unter (1):

Der Stoff Tetraethylblei erfüllt die Kriterien (…) für eine Einstufung als reproduktionstoxisch (Kategorie 1A) und erfüllt somit die Kriterien für die Aufnahme in Anhang XIV der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 gemäß Artikel 57 Buchstabe c der Verordnung.

Im Anhang dieser Verordnung werden dann noch zwei Übergangsregelungen mit ihren Stichtagen festgeschrieben: Antragsschluss 1. November 2023, und Ablauftermin 1. Mai 2025.

Tatsächlich kann diese Verordnung das Ende des Imports von (unverdünntem) TEL und seiner Beimischung in Flugkraftstoffe bis zum 1. Mai 2025 bedeuten. Aber das wird nur dann geschehen, wenn die Treibstoffindustrie nicht von der angebotenen Option Gebrauch machen wird und bis zum 1. November 2023 keinen qualifizierten Antrag stellt, TEL weiterhin in einer abgesicherten Umgebung zu verwenden und zu vertreiben.

Nach unserem Kenntnisstand gibt es aber die Bereitschaft der Mineralölindustrie die Anträge zu stellen und auch erste Gespräche mit den Behörden, um bis zum Antragsschluss am 1. November 2023 einen Antrag auf Weiternutzung von TEL einzureichen. Sollten diese Anträge abgelehnt werden, dann wäre tatsächlich die Produktion von Avgas 100LL innerhalb der EU nach dem 1. Mai 2025 nicht mehr gewährleistet. Nach Gesprächen mit der zuständigen Abteilung in der EU-Kommission (DG GROW: Internal Market, Industry, Entrepreneurship and SMEs) gehen wir davon aus, dass solche Anträge zur Nutzung kritischer Substanzen bei sorgfältiger Begründung regelmäßig genehmigt werden.

Zweite Frage: Kann Avgas 100LL weiterhin in die EU importiert werden?

Für TEL gibt es in den EU-Regularien eine kritische Konzentration, und die liegt bei 0,1% des Gewichts. Liegt die TEL-Beimischung unter diesem Grenzwert, dann darf die Substanz weiter importiert werden, darüber nicht. Gemäß der Spezifikationen für Avgas 100LL liegt der TEL-Anteil zwischen minimal 0,056% und maximal 0,125%. Somit kann der TEL-Anteil problemlos unter den kritischen Wert in den EU-Regularien von 0,1% gesenkt werden (was in der Praxis offenbar auch heute schon geschieht, denn TEL als Additiv ist teuer), so dass Importe von Avgas 100LL aus dem EU-Ausland weiterhin möglich sein werden. Dies hat uns die EASA auch schriftlich in einem Hintergrundpapier bestätigt.

Dritte Frage: Wann endlich kommt bleifreies Avgas?

Wir hatten anlässlich der AERO in Friedrichshafen Gelegenheit mit Tim Roehl, dem Chef des US-Unternehmens GAMI, dem Entwickler des einzigen in den USA zugelassenen 100-Oktan-Avgas ohne Blei, ausführlich zu sprechen. GAMI ist optimistisch, von der FAA sehr bald die Zulassung seines Avgas 100 UL (=unleaded) für die gesamte Flugzeugflotte zu erhalten, die heute für Avgas 100LL zugelassen ist. Nach Abschluss einer Testreihe liegt die entsprechende Bestätigung der FAA Zulassungsstelle offenbar bereits vor, jedoch soll diese noch von der FAA Zentrale überprüft werden. Derzeit ist GAMI in Gesprächen, um das unverbleite G100UL auch nach Europa zu bringen.

Andere Hersteller in den USA und Europa sind offenbar auch weiterhin mit der Entwicklung eines Avgas 100UL befasst, zur aktuellen Lage erfahren wir derzeit allerdings keine Details.

Vierte Frage: Was geschieht in den USA?

In den USA haben die Verbände der General Aviation den Behörden einen Vorschlag unterbreitet, das Avgas 100LL bis zum Jahr 2030 nicht mehr zu verwenden. Auch in den USA gehen die Behörden gegen TEL vor, an einigen Flugplätzen in Kalifornien gibt es aktuell Versuche, den Verkauf von Avgas 100LL sogar komplett zu verbieten. In den USA hält man es für realistisch, bis 2030 ein bleifreies Avgas mit 100 Oktan zum Verkehr zuzulassen und auch auf dem Markt in ausreichender Menge zu vertretbaren Preisen anzubieten.

Es bleiben noch viele Fragen offen? Ja, das stimmt. Aber es gibt viele gute Gründe, vorsichtig optimistisch zu sein, dass der Übergang zu einem bleifreien Avgas 100UL stattfinden wird, bevor es zu Engpässen kommt.